„Jetzt muss ich mal ein Hühnchen rupfen mit dir“, polterte Emily in ihrer letzten Mail an die Freundin.
Julia hielt kurz die Luft an und überflog die Zeilen, während ihre Gedanken voraus eilten. Oder zurück?
„Du bist nicht anders wie die Anderen, du bist genauso gleich wie sie“, prangerte ihr Gegenüber sie an. „Du hast Kinder, einen Beruf, kennst Liebe, Freude, Leid und Sehnsüchte…, nur, Julia…, du teilst vielleicht ein paar andere Vorlieben als die Menschen in deinem Umfeld.“
„Muss sie denn immer das letzte Wort behalten“, murmelte Julia leicht gereizt und löschte mit einem Anflug von Genugtuung die Mail. „Aus den Augen, aus dem Sinn“, sie wollte keinen Streit anzetteln und schon gar nicht in der Vorweihnachtszeit.
Dennoch, ihre jüngste Erkenntnis, dass sie anders tickte, hatte etwas Tröstliches für sie. Kein Wunder, dass sie manchmal nach Worten ringen musste, um sich überhaupt verständlich zu machen. Klang sie so anders?
Die letzten sieben Jahre waren voller Überraschungen gewesen und sie hatte sich mindestens sieben Mal vom Scheitel bis zu den Spitzen der Zehen gehäutet. War in bunte Gewänder geschlüpft, hatte Masken ausgetauscht, Schuppen gewechselt und sie wie kleine Miniaturschilde zum Schutz vor sich oder vor den anderen getragen.
„Eine Schlange, die sich nicht häutet, stirbt“, sagte Nietzsche. Sieben Mal war Julia gerade so mit heiler Haut entkommen, gefällig drehte und wendete sie sich vor dem Spiegel. Denn das was sie sah, behagte ihr.
Schuppe für Schuppe schmiegte sich eng an ihren Körper und schimmerte in der Abenddämmerung, geheimnisvoll grün wie der Seerosenteich, den sie vor ein paar Wochen im Schlosspark abgelichtet hatte.
„Eingebildetes Ding“, schalt sie laut und überlegte, wann der Häutungsprozess begonnen hatte. Damals vielleicht, als ihr Mann einen neuen Posten übernommen hatte, was voraussetzte, dass sie als geduldiges Anhängsel repräsentierte? Manchmal hatte sie Marc einfach alleine losgeschickt.
Und wann war die Metamorphose zumindest fürs Erste abgeschlossen gewesen? Nachdenklich strich Julia eine Strähne aus der Stirn. Ihr stockte der Atem, wenn sie an die letzte Weihnachtsfeier im Betrieb ihres Mannes dachte. Sie hatte mitten im Sommer stattgefunden und Julia hatte ein leichtes Kostüm gewählt, um sich den heißen Temperaturen anzupassen.
Sie wurden durch die Räumlichkeiten der Automobilfirma geführt, drangen in das Herzstück der Entwicklungsabteilung ein, durften einen Blick auf den Erlkönig erhaschen, der mit Stoff verhüllt war, landeten vor dem Klimawindkanal, wo sie mit warmen Jacken ausgestattet wurden.
Julia fröstelte jetzt noch, wenn sie an ihre dünnen Schuppen dachte.
Sie hatte darauf verzichtet, in den eisigen Raum zu treten, da sie Kälte noch nie mochte. Einsam, ein wenig verloren, stand sie im Computerraum, der durch dicke Scheiben von der Kammer getrennt wurde.
Die Damen kreischten unbeherrscht, wie sie in Stöckelschuhen und engen Röcken auf die Motorräder kletterten, um sich im simulierten Wind die Haare aus dem Gesicht blasen zu lassen. Schnee quoll aus einer Düse und puderte die Modells dick ein.
Das Gelächter entfernte sich, dumpf starrte Julia auf die Bildschirme, die mit glitzernd roten Kugeln geschmückt waren, und ein Lichterbaum blinkte im Sekundentakt. Weihnachtszauber im Hochsommer…
Überrascht hörte sie leises Schluchzen, sie war doch nicht alleine. Die andere Frau hatte auch keine Jacke genommen, putzte sich verzweifelt die Nase. Julia wusste, dass ihr Sohn vor ein paar Wochen verstorben war und zwei kleine Kinder hinterlassen hatte. Sie bewunderte die tapfere Haltung, mit der die Frau die Feierlichkeiten ertrug.
Julia trat zu ihr hin, wand einen Arm um die Schulter, strich ihr sanft über den Nacken und spürte winzige Schuppen, die noch ganz weich waren und sich wie ein hauchdünner Panzer um den Oberkörper legten.
„Um die Seele zu schützen, damit sie leichter mit dem Verlust fertig wird“, flüsterte Julia beruhigt, da sie einen scharfen Blick dafür entwickelt hatte, wer Schuppen trug und wer nicht. Es war zu einer Art Hobby für sie geworden, auf einer imaginären Liste flüchtig zwei Spalten zu skizzieren und Menschen einzuteilen in Schuppenträger und in Normalhäuter.
Beim anschließenden Buffet schüttelte Julia die Beklommenheit ab, die sie ergriffen hatte, stieß mit ihrem Tischnachbarn bei einem Glas Champagner an.
Sie hatte die Ehre neben dem Chef zu sitzen, sie mochte ihn und hatte mit Überraschung seine Rede verfolgt, in der enorme Leidenschaft mitschwang, was Seele verriet und was die trockenen Fakten der Firmenbilanz so unendlich auflockerte.
Er blickte ihr tief in die Augen, Julias Pupillen glitten unwillkürlich ein Stückchen nach unten zum Ausschnitt seines Polohemdes, sie sah eine hellgrüne Schuppe aufblitzen, lächelte ihm verschwörerisch zu…